Mein Leben & meine Schulzeit mit Dyskalkulie

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Nun wird sich der ein oder andere denken: Hä? Dyskalkulie? Noch nie gehört, was ist das? Denn Fakt ist, eine Legasthenie (Lese- und Rechtschreibstörung) ist weitaus bekannter. Daher gibt es erstmal eine Definition:

“[…] Den betroffenen Kindern fehlen das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, um die Grundrechenarten erlernen zu können. Sie verstehen Zahlen als reine Symbole, nicht als Mengenangaben. Damit fehlt ihnen bereits das wesentliche Handwerkszeug, um Lernschritte in der Mathematik zu verinnerlichen. “

Quelle: Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V.

Oder wie ich es vereinfacht nenne: Wie Legasthenie, nur mit Zahlen – eine Rechenschwäche. Warum ich euch davon erzähle? Um darauf aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass es eben keine Schwäche ist und man dennoch durch die Schulzeit kommen kann.

Auszug aus der ICD-10

„Diese Störung bezeichnet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.“

Quelle: Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie e.V.

Meine Zeit in der Grundschule

Mathe gehört zu den Schulfächern, die man entweder liebt oder hasst. Ich gehöre seit der ersten Klasse zur zweiten Fraktion. Schon damals hatte ich Probleme in Mathe und bekam Hilfe von meiner Klassenlehrerin. Doch die Probleme zogen sich bis zur vierten Klasse hin und ich freute mich wie verrückt über eine 4 in Tests oder Klassenarbeiten.
Leider kann ich mich an den Unterricht in der Grundschule kaum erinnern, doch Mathe war schon da in Gräuel für mich. Dennoch gingen meine Eltern und Lehrer zu dieser Zeit davon aus, dass ich einfach nicht sonderlich gut in Mathe war. Als Kind nahm ich das so hin. Schließlich hatte ich in Deutsch und Musik stets gute Noten.
Als in der 4. Klasse dann die Empfehlungen für die weiterführende Schule anstanden, hätte ich fast aufgrund meiner 4 im Zeugnis in Mathematik eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen. Doch ich wurde an einer Realschule angenommen.

Fünf Milliarden Nachhilfelehrer später…

Ab der 5. Klasse bekam ich dann auch Nachhilfe in Mathe und die weiterführende Schule zeigte mir immer deutlicher, dass ich große Defizite in Mathe hatte. Ich konnte sehen, dass andere schneller und besser die Aufgaben erledigten und nicht ewig an einer herumdrucksten. Was das als Kind mit einem macht? Ich fühlte mich niedergeschlagen, schlecht und dumm. Ja, ich fühlte mich unglaublich dumm.
Da ich grundsätzlich ein schüchternes, unsicheres Mädchen war, meldete ich mich in den Mathestunden nie. Es baten sich mir nicht mal Chancen, mich zu beteiligen, da meine MitschülerInnen das Ergebnis viel schneller rausposaunen konnten. Während ich also an der zweiten Aufgabe verzweifelte und auf meine Armbanduhr starrte, in der Hoffnung, es würde gleich klingeln, waren alle anderen schon viel weiter.
Meine Eltern steckten massenweise Geld in Nachhilfelehrer und ich kann euch nicht mal sagen, wie viele ich hatte. Mindestens sieben. Nicht einmal eine Lehrerin, die an Schulen Mathematik unterrichte, kam jemals auf die Idee, dass ich an Dyskalkulie litt. Kein einziger meiner Nachhilfelehrer tat das. Stattdessen trug der ein oder andere dazu bei, dass ich mich noch dummer fühlte. Dass ich tatsächlich irgendwann glaubte, ich sei einfach zu blöd für Mathe.

Schüchtern, depressiv, dumm & sitzengeblieben

So fühlte ich mich irgendwann. Selbst meine anfänglich guten Noten in Deutsch, Englisch, Französisch, Kunst und Musik sanken in den Keller. Zu meiner schlechtesten Schulzeit hatte ich sage und schreibe fünf 5 im Zeugnis stehen. Mathe, Chemie, Physik, Sport und… war es Bio? Das weiß ich nicht mehr. Jedenfalls wurde ich nicht in die 9. Klasse versetzt und meine Mutter zog einen Schlussstrich. Ich wechselte die Schule und wiederholte dort die 9. Klasse. Wir hatten große Hoffnungen, aber im Nachhinein betrachtet, war es auch nicht der richtige Schritt.
Zwar hatte ich bis zu dreimal Nachhilfe in der Woche, doch es nützte nichts. Auch wenn ich die Aufgaben in der Nachhilfe einigermaßen “verstand” und anwenden konnte, war es am nächsten Tag bei der Klassenarbeit weg. Wie ein Blackout. Ich konnte mein Wissen, welches sich zu der Zeit wieder verflüchtigt hatte, nicht mehr abrufen, geschweige denn auf eine ähnliche Aufgabe anwenden.
In der 9. Klasse ging es wie so oft auch um meine mündliche Mitarbeit, die so gut wie gar nicht vorhanden war. Mit meinem Mathelehrer hatte ich einen Deal, dass ich mich in der Stunde mindestens dreimal meldete. Pustekuchen. Ich war zu langsam, zu unsicher und hatte viel zu viel Angst. Dennoch rief er mich auf und es war demütigend. Noch heute schwebt dieses Szenario in meinem Kopf herum und ich sehe sein (entschuldigt den Ausdruck) dämliches Grinsen vor mir und das der Mitschüler. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Vielleicht wird Lehrern endlich mal klar, was sie im Leben eines Schülers anrichten können. In meiner Schullaufbahn habe ich einige kennengelernt, deren Empathie kleiner ist als die einer Kartoffel. Ihr seid Pädagogen und solltet nicht nur wegen des Beamtenstatus und der Pension Lehrer werden wollen. Ich weiß, dass es auch einige wenige gibt, die anders sind – aber sie sind immer noch in der Unterzahl.
Es ist keine Anschuldigung, sondern ich bitte euch lediglich darum, euch das zu Herzen zu nehmen.

Mit Ach und Krach bestand ich den Abschluss in der Realschule, auch wenn ich einen Durchschnitt von 4,0 im Zeugnis hatte. Ich habe kein Problem damit, es euch hier oder jemand anderem zu erzählen, denn vielleicht liest das jemand, dem es ähnlich geht und ich helfen kann.

Fuck you, Mathe

Nach zwei Jahren hatte ich die Fachhochschulreife in der Tasche, bei der ich tatsächlich einen besseren Schnitt erreicht hatte. Vor wenigen Jahren wollte ich das Abitur nachholen und TADA, da war Mathe wieder. Ich war nun älter und ehrlich, es fiel mir noch schwerer. Ich war nicht die einzige in meinem Kurs, die schlecht war, Gott sei Dank. Also nahm ich wieder Nachhilfe und kaum war die Stunde vorbei, war alles vergessen, was ich gelernt hatte. Der Nachhilfelehrer hatte sich immer Mühe gegeben und hatte eine Engelsgeduld, aber an meinen Noten änderte es nichts.
Ich war erwachsen (zumindest ab und zu haha) und wollte endlich Gewissheit. Viel zu lange hatte ich mich mit Mathe herumgequält und nicht verstanden, weshalb es nicht in meinen Kopf ging.

Schluss jetzt!

Ich kontaktierte eine diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin, die sich einige Klassenarbeiten von mir ansah und schon eine Vermutung hatte. Danach führte sie die Testung durch, die aus einigen Rechenaufgaben bestand. Von Addition bis Textaufgaben war alles dabei. Ich sollte dabei meinen Rechenweg erklären und sofort überkam mich das mulmige Gefühl von damals. Nicht einmal Textaufgaben mit Prozentrechnung konnte ich durchführen. Nach gut einer Stunde stand das Ergebnis offiziell fest: Ich hatte eine Dyskalkulie. Es fühlte sich nicht belastend, sondern unglaublich befreiend an. Endlich hatte ich Gewissheit und wusste, dass ich nicht blöd bin.
Eine Dyskalkulie kann viele Ursachen haben; es kann sogar erblich bedingt sein, was bei mir mitunter der Fall ist. Weitere Ursachen könnt ihr beim Bundesverband Legasthenie & Dyskakulie e.V. nachlesen.

Wie merkst du das im Alltag?

Da könnte ich euch ganz viele Beispiele nennen, bei denen mir meine Dyskalkulie auffällt. Wenn ich z.B. im Auto sitze und das Navigationssystem mir sagt, ich solle in 500 Metern rechts abbiegen. Ehm, 500 Metern? Keine Ahnung, wie viel das sind. Ich fahre also langsamer, blinke, schaue gleichzeitig auf Navi und Ausfahrt, um sie rechtzeitig zu erkennen und heraus zu fahren. Das kann man mitunter ziemlich anstrengend werden, vor allem da es vorprogrammiert ist, dass ich mich verfahre ?
So wie ich 500 Meter nicht erkennen kann, kann ich auch nicht einschätzen, wie viel Kilo Mehl/Zucker/usw. es sind oder wie lang die Wand in meinem Zimmer ist. Man könnte mir auch verklickern, sie sei 10 Meter lang, ich würde es glauben.
Ein gutes Beispiel ist vor einigen Tagen vorgefallen: Meine Schwester nennt mir das Geburtsjahr einer Bekannten und ich brauche mehrere Minuten, um auszurechnen, wie alt sie ist. Das stellt mich schon vor eine große Herausforderung.
Ich könnte euch noch viele andere Beispiele aus meinem Alltag nennen, aber das würde zu viel werden. Ich merke, dass ich keinerlei Verständnis für Mengen und Zahlen habe und wenn ich keinerlei sage, dann übertreibe ich nicht. Aber mittlerweile weiß ich, dass nicht dumm bin. Mein Gehirn ist in dieser Hinsicht einfach etwas beeinträchtigt und hin und wieder mache ich sogar Witze über meine Dyskalkulie.

Unterstützung in der Schule

Du selbst oder dein Kind ist möglicherweise auch davon betroffen? Da meine Diagnose viel zu spät gestellt wurde, habe ich nie Erfahrung mit Nachteilsausgleich oder Unterstützung in der Schule gemacht. Jedoch solltest du schnellstmöglich eine Testung durchführen lassen, google einfach nach einem Legasthenie- und Dyskalkulietrainer in deiner Nähe. Die Diagnose ist kein Nachteil, ganz im Gegenteil. Manche Bundesländer bieten Nachteilsausgleiche an, mehr Infos gibt es HIER.
Wenn du dir nicht sicher bist, ob die Diagnose zutrifft, hat der BVL hier einige Anzeichen aufgelistet: Anzeichen & Symptome.


Das war mal wieder ein persönlicher Beitrag. Ich hoffe, Außenstehenden und/oder Betroffenen die Thematik näher gebracht zu haben. Vor allem solltet ihr aber wissen, dass es nichts Schlimmes ist und man trotzdem einen guten Abschluss erreichen kann. Schämt euch nicht für eure Beeinträchtigung, egal ob Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche oder sonst irgendwas. Kein Mensch ist perfekt.

1 Gedanke zu „Mein Leben & meine Schulzeit mit Dyskalkulie

  1. Ich fand den Beitrag sehr interessant.
    Ich habe bis grade eben tatsächlich das erste Mal davon gehört (und bin inzwischen fast 32 ?)
    Ich finde es sehr toll und mutig von dir davon zu erzählen.

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